Zeitzeugen

IMG_1211A
Atemtage in Hertenstein, Juli 2009

Herta erzählt über Dr. Schmitt.

Ich habe noch nie in einem so großen Kreis über Dr. Schmitt gesprochen. Ich hoffe, es gelingt mir.

Er ist in Stuttgart geboren, ein Schwabe, in einer katholischen Familie, das mittlere Kind von 5 Geschwistern. Mit 10 Jahren kam er nach St. Ottilien in das dortige humanistische Gymnasium, mit 16 wurde er ein junger Mönch mit Namen Frater Timotheus. Nach dem Abitur studierte er Theologie. Es kam der 1.Weltkrieg. Er wurde Soldat. In Frankreich haben ihm wohl die erschütternden Erlebnisse in den Schützengräben die Erkenntnis gebracht, dass er berufen sei, Arzt zu sein, ein Arztpriester sozusagen. Er beendete nach dem Krieg sein Theologie-Studium und begann, Medizin zu studieren.


In München eröffnete er seine Praxis und hatte schon sehr schnell große Erfolge. Schon damals drang er ein in paracelsische Lehren, in die Welt der Naturheilkunde, ging sehr inspiriert seine eigenen Wege. Das Wissen um den Atem war in ihm. Er wurde sich seiner großen Heilkraft bewusst.

Einer seiner Patienten, der seine Begabung erkannte, bot ihm an, ihm beim Erwerb eines Hauses, in dem er eine Klinik aufbauen sollte, zu helfen. Sie fanden mitten in München ein wunderschönes Haus, das seit langem wohl leer stand, da es angeblich darin spukte. Schmitt entschied sich für den Kauf. „Die Geister werden wir schon rausatmen“ – so wird er wohl gedacht haben. 1926 begann er, in seiner Klinik am Siegestor zu arbeiten. Der Atem wurde immer deutlicher der Mittelpunkt seines Therapieansatzes.

1933 war die Machtergreifung Hitlers. Es kam bald, 1934, zum sog.“Röhm-Putsch“, der „Röhm-Affaire“. Röhm, anfangs an Hitlers Seite, trennte sich von ihm, wodurch dieser Putsch ausgelöst wurde. Es gab sofort Erschießungsbefehle, auch für den involvierten Kreis. Dr. Schmitt schmuggelte einen betroffenen Mann über die Schweizer Grenze. Es kam heraus und Schmitt wurde sofort zur Exekution ins Gefängnis Stadelheim gebracht.

Ich erzähle eine fast unglaubliche Geschichte:
Es herrschte wohl ein ziemliches Chaos. Obwohl Schmitt schon in Haft war, suchten ihn 2 SA-Leute in seiner Klinik, fanden ihn dort nicht. Beim Weggehen fragten sie eine Frau vor dem Haus auf der Leopoldstraße, ob sie wisse, wo Dr. Schmitt wohnt. Sie bejahte es und schickte sie in die Ohmstraße. Dort gab es wirklich einen Dr. Schmitt. Sie gingen in seine Wohnung und erschossen ihn. Dieser Mann hatte mit alledem nichts zu tun, er war Musikkritiker.

Zurück zum Gefängnis. Sein Gefängniswärter forderte ihn auf, ihm zu folgen. Er führte ihn in den Exekutionsraum, ließ ihn sich unter eine Bank legen mit der Aufforderung, still zu sein und da zu bleiben, bis er ihn wieder hervorholen würde. Schmitt sagte später einmal zu mir, er hätte alle Exekutionen miterlebt unter seiner Bank, er sei wie aus der Zeit ausgestiegen. Irgendwann kam sein Wärter, holte ihn unter der Bank hervor und sagte ihm, die Gefahr sei vorbei, es sei eine Amnestie ausgesprochen worden. Wie so etwas in dieser Zeit vor sich ging, können wir uns heute wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Schmitt fragte ihn natürlich: warum haben Sie das für mich gemacht? Er sagte seinen Namen und dass seine Tochter schwerkrank in der Schmitt-Klinik lag. Als kein Geld mehr da war, durfte sie noch einige Wochen umsonst in der Klinik bleiben und wurde geheilt. “Das ist mein Dank an Sie“. Ich weiß nicht genau, wie lange Schmitt noch in Stadelheim bleiben musste. Nach seiner Entlassung wurde ihm mitgeteilt, dass er seine Klinik abgeben müsse und in München Stadtverbot erhalte.

Er ging nach Berlin und begann von neuem. In einer kleinen Wohnung in Charlottenburg fing er wieder an, zu arbeiten. Sehr schnell hatte er eine große, sehr gemischte Klientel, was in der damaligen Zeit nicht ungefährlich war. Unter anderem war Rudolf Hess sein Patient. Die Nazis waren sehr an der Naturheilkunde interessiert und daran, was Schmitt als Arzt machte. Hess hat Schmitt sehr verehrt. Als Hess 1940 nach England flog, um eigenmächtig aber erfolglos Frieden zu verhandeln, war Hitler der Überzeugung, dass Hess sich dies mit Dr. Schmitt ausgedacht hatte. Schmitt wurde sofort wieder inhaftiert, zuerst in Berlin und dann im KZ Sachsenhausen. Interessant ist, dass man dort von ihm verlangt hat, er solle über seine Arbeit mit dem Atem schreiben, sich sozusagen ausweisen, rechtfertigen. So ist sein großes Werk, die Atemheilkunst, konzipiert worden. Meine Schwester Frederike Richter führte in Berlin seine Praxis als Ärztin weiter, unter schweren Bedingungen und unter ständiger Gestapo-Bewachung. Sie durfte einmal in der Woche an die Gefängnispforte kommen, Geschriebenes in Empfang nehmen und angefordertes Buchmaterial übergeben. Wenn man einen Blick wirft in die handgeschriebenen Blätter und darin sein Ringen um das Schöpfen der Texte erkennt, kann man nur mit allergrößter Hochachtung davor stehen.
Ich möchte erzählen, dass Dr. Schmitt nachts heimlich von einem Gefängniswärter in Zellen gebracht wurde, um sehr leidenden Gefangenen zu helfen. Er hatte nur seine Hände, sein Wissen, seine Erfahrung und sein Mitgefühl. Und er half.

Meine Schwester war in der Berliner Praxis sehr anerkannt und behandelte viele der Schmitt-Patienten weiter. Darunter waren auch Menschen, die in der damaligen Zeit Einfluss hatten. Ich weiß nicht, wie es wirklich geschah, doch dank vieler Opfer und dem enormem Einsatz meiner Schwester wurde Schmitt ½ Jahr vor Kriegsende aus Sachsenhausen entlassen.
Man brachte ihn auf seinen Bauernhof in der Nähe des Chiemsees, wo er unter Gestapo-Bewachung blieb, in sogenannter Hofhaft. Doch er war außer Lebensgefahr und zuhause. Gegen Ende der Krieges erinnerten sich Gestapo Beamte an ihn und seinen Hof und tauchten dort auf, um sich vor den Amerikanern zu verstecken. Das war noch einmal eine bedrohliche Situation. Doch kurz vor Eintreffen der Amis flohen die Gestapo-Männer in die Berge. Smitt hängte sein Bettuch hinaus und übergab sich den Amerikanern.

Der Krieg war vorbei. Meine Schwester flüchtete aus Berlin und kam auf den Hof. In Halfing konnte sie bald eine Arztpraxis eröffnen und Schmitt wurde dort Bürgermeister. Sie mussten wieder in ein normales Leben finden. Gemeinsam haben sie den Hof aufgebaut und schon damals ganz natürlich, biologisch angebaut. Selbst eine Nudelmühle entstand (Schmitt, der Schwabe, wollte doch endlich wieder mal Nudeln essen, nach Hungerzeiten in den langen Haft-Jahren). Meine Schwester führte die Praxis, sie wurde eine echte, bei den Bauern sehr beliebte Landärztin. Sie half den Bäuerinnen bei den Geburten, setzte sich sehr ein für die Frauen auf dem Land. So wurde sie zum „Engel von Halfing“. Noch war es nicht an der Zeit, zurück nach München zu gehen. Aber die Vorbereitungen dazu wurden getroffen, alte Kontakte wieder belebt, neu aufgebaut.

Es kam die Zeit der Wiedergutmachung. Die Klinik sollte zurückgewonnen werden, sie war im Krieg der Kunstakademie angegliedert worden. Mit dem Verkauf seines Bauernhofes und dem Geld der Wiedergutmachung konnte Dr. Schmitt die Klinik in der Leopoldstraße 3 wieder sein Eigen nennen. Sie wurde restauriert, erweitert und so entstand wieder die „Schmitt-Klinik“, die Atemklinik, damals die einzige Naturheilklinik in München. Es konnte neu beginnen.
Schnell füllte sich das Haus wieder. Es war bewundernswert, mit welcher Freude und Hingabe „der Doktor“ – so nannten ihn alle – wieder an die Arbeit ging. Es kamen damals viele Freunde aus der Zeit des Widerstandes, berühmte Namen, wunderbare Menschen. Das Therapiekonzept war breit gefächert: Homöopathie, Heilen mit Kräutern aus seiner Firma Jukunda, die von Berlin nach München umzog. Es gab in der Klinik eine Sauna, Bäder wurden verordnet, Akupunktur angewandt. Im Mittelpunkt aber stand die Atemtherapie, die Atemmassagen, die vom Doktor und seinen von ihm ausgebildeten Mitarbeiterinnen gegeben wurden.
Neben der Klinik hatte er eine gutgehende Praxis. Er konnte unglaublich viel arbeiten. Die Menschen saßen schon früh morgens auf der Treppe zum 1.Stock und warteten, bis um 8 Uhr die Türe geöffnet wurde. Der Doktor schaute den Leuten mit der Lupe in die Augen, schrieb ein Rezept, sprach ein wenig mit ihnen, nicht viel, und manche durften sich auf eine Matte auf dem Boden legen, bekamen heiße Kompressen auf den Rücken verabreicht und wurden von ihm massiert. Das dauerte meist nicht lange, 10 Minuten höchstens. Der Doktor kniete sich auf den Boden neben dich, schaute dich an und mit sicherem Blick fand er den Weg durch die Behandlung. Es war oft nicht leicht für die Patienten, es erforderte ein generelles Ja, das aus dem Vertrauen in sein Wissen, sein Können, in seine Integrität kam Er war eine sehr warme, herzliche Persönlichkeit, der man vertrauen konnte. Seine weibliche Seite war stark ausgeprägt neben der männlichen Kraft. Das ist eine ideale Voraussetzung für einen Therapeuten, einen Arzt. Die Patienten standen nach einer kurzen Zeit des Nachruhens auf und fühlten sich meist wie neugeboren. Ich habe das alles miterlebt und dann auch am eigenen Leib erspürt. Neben meinem Studium durfte ich bei ihm als Sprechstundenhilfe arbeiten und habe damals sehr viel gesehen, erlebt und gelernt.

Neben Praxis und Klinik gab es noch manche anderen Aufgaben, die er auf sich nahm. Er war Vorstand der VVN, des Verbandes der Verfolgten des Naziregimes. Er war 1.Vorsitzender des Ärztlichen Bezirksverein in München. Er hatte seine Arzneimittelfirma Jukunda, deren Rezepturen alle aus seinem großen ärztlichen Wissen stammten. Er hat sich sehr eingesetzt im Kampf gegen die Atomkraft. Wir haben einige eindrucksvolle Fotos, auf einem demonstriert er vor der Uni zusammen mit Studenten gegen die Atomkraft. Es waren noch andere Aufgaben, die er übernahm, die ich nicht mehr genau erinnere.

Nachdem die Klinik wieder aufgebaut war und der Betrieb in Gang gekommen war, war es meine Schwester Frederike, die an ihn herantrat mit dem Verlangen, das Buch über den Atem müsse nun geschrieben werden. Schmitt wollte es eigentlich nicht mehr, er wollte nur noch mit Menschen arbeiten. Sie konnte ihn aber doch von der unbedingten Notwendigkeit überzeugen, dass die Arbeit mit dem Atem eine wissenschaftliche Begründung und Sicherung brauche. Der Doktor war so stark in seiner Ausstrahlung, dass man oft dachte, seine Erfolge wären „nur“ ihr zuzuschreiben. Nun hatte er ja in seiner Haftzeit schon den Beginn zu einem solchen Buch gemacht, es hieß, hier weiterzumachen. Es kam eine Zeit sehr, sehr großer Arbeit auf die beiden zu. Den ganzen wissenschaftlichen Bereich übernahm meine Schwester. Sie fuhr von Universität zu Universität, besprach sich mit Professoren, um die Arbeit auf den neuesten Stand der Forschung zu bringen. So ist das Buch fertig geworden und 1959 erschienen. Es folgten 8 Auflagen. Auf dem Umschlag war immer eine ägyptische Figur, die Schmitt auswählte. Sie war ihm ein Symbol für das, was er den Menschen zeigen wollte „Seid rechtwinklich an Leib und Seele“ – Nietzsche.

Schmitt war zusammen mit einigen anderen Ärzten Gründer der AFA, des Dachverbandes der Atemtherapeuten, im Jahre 1959. Das war ein sehr wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung dieses Berufes.

Ich selber habe meine Praxis nach dem Tode meiner Schwester und Dr. Schmitts begonnen, als Heilpraktikerin, nicht wissend, ob der Atem seinen Platz finden würde. Nach einigen Jahren, in denen mir dieser Beruf sehr gefallen hat, entschloss ich mich spontan, mit dem Atem zu arbeiten. Durch die vielen Jahre beim “Doktor“ hatte ich ein Wissen, das mir die innere Berechtigung gab. In vielen Gesprächen mit ihm, durch die Assistenz bei seinen Behandlungen und viel Atembehandlungserfahrung am eigenen Leib hatte ich gelernt und dieses Wissen verinnerlicht. Und es stimmte. Ich begab mich auf die Suche nach meiner Antwort auf das Erfahrene. Die Schmitt´sche Basis trug mich und trägt mich bis heute. Sehr schnell füllte sich meine Praxis. Durch meine Begegnung und auch folgende Lehrzeit bei Volkmar Glaser und Ilse Middendorf bin ich im Behandeln einen neuen Weg gegangen, obwohl ich immer auch Atemmassagen gegeben habe. Und auch auf diesem neuen, anderen Weg war mein Wissen um die Aussage von Dr.Schmitt immer da und begleitete mich. Er war der Grund. Auch in der von mir gegründeten und lange geleiteten Ausbildungsstätte „Atemhaus München“ wird die Atemmassage gelehrt.

Dr. Schmitt starb 1963 mit 67 Jahren. Es war für die Klinik, die Patienten und die vielen Menschen , die ihn liebten, ein schwerer Verlust. Seine Klinik wurde noch 2 Jahre weitergeführt. Dann wurde deutlich, dass sie mit ihm lebte und starb. Das Klinikgebäude, in allernächster Nähe der Universität, wurde von der Universität München erworben.

Ich hatte in vielen Jahren alles gesammelt, was an schriftlichem Nachlass von Dr. Schmitt in meine Hände gekommen war. Ich wusste auch, dass in der Firma Jukunda eine große Sammlung mit seinem geordneten Nachlass lag. Da das Gebäude der Firma abgerissen werden sollte, bat ich darum, alles, was mir wichtig für uns erschien, haben zu dürfen. Es wurde mir erlaubt und so lagern jetzt im Atemhaus viele Dokumente, in den letzten 2 Jahren von uns geordnet und registriert. Alles steht zur Verfügung, um bearbeitet zu werden und der Nachwelt erhalten zu bleiben. Dazu haben wir einen Verein gegründet mit dem Vorhaben, diese Hinterlassenschaft in verschiedenen Etappen zur Verfügung zu stellen. Als erstes haben wir die „Atemheilkunst“, das große Werk, das einige Jahre vergriffen war, wieder neu herausgebracht. Das wissenschaftliche Erbe Schmitts soll in Form einer Promotion bearbeitet werden. Der Gedanke besteht, ein Lehr-Lernbuch für Atemschüler und auch andere Interessierte zu entwickeln. Auch planan wir ein Buch über dieses sehr besondere ärztliche, aber auch politische Leben schreiben zu lassen. Das sind große Aufgaben. Wir brauchen dazu Glück, die richtigen Menschen – und Geld. Unser Verein ist inzwischen gemeinnützig, Beiträge und Spenden können also bei der Steuer geltend gemacht werden.

Wir haben einige Interviews gemacht mit Zeitzeugen, einige stehen noch aus, viele Menschen, die Wesentliches hätten erzählen können, sind natürlich nicht mehr am Leben.

Hiermit will ich diesen Bericht schließen. Unendlich vieles wäre über ihn zu erzählen und das wird ja vielleicht auch einmal geschehen.

Pdf-Datei zum Download

Zusammenfassung aktueller Interviews